Hans Magnus Enzensberger
Ach Europa!
In den Jahren 1982 bis 1987 verfasst und 1987 bei Suhrkamp erschienen.
Wunderbar, wie Enzensberger auf seiner Tour zu Freunden das Europa beschreibt,
das wir – heute verunsichert – krampfhaft haltend – auf Harmonisierung trimmen wollend –
in uns und vor uns haben.
Keine aktualisierte Ausgabe, die im Nachhinein manches auf den Zeitgeist trimmt, nein, wahrhaftig und unverfälscht hält uns Enzensberger seine “Vision” noch vor dem Fall der Mauer und des Glasnost in Osteuropa vor.
Mit einem Augenzwinkern zeigt er das Europa des positiven Chaos, das Europa der Ungleichheiten als Chance für dasselbe.
Und in seiner Vision im Epilog – er versetzt sich in einen amerikanischen Journalisten des Jahres 2006 zeigt er uns den Spiegel vor.
Nur einige Hinweise:
Polnische Zufälle, 1986: In einem Gespräch mit polnischen Freunden
(in der Originalausgabe Seite 378).
Ein polnischer Freund sagt:
“Außerdem, die Polen als brave Europäer – das ist doch ein Hirngespinst … Und noch etwas anderes hast Du vergessen, mein Lieber. Wir wissen nämlich nicht, wie man mit seinen Nachbarn auskommt. Denn solange wir denken können, haben diese Nachbarn nur eins im Sinn gehabt: uns zu überfallen. Daran haben wir uns gewöhnt. Ich bin gar nicht sicher, dass wir ohne Feinde auskommen könnten. Jedenfalls würden wir euch alle bis aufs Blut reizen mit unseren Extratouren, unseren Empfindlichkeiten.”
Enzensberger antwortet ihm mit den Worten, dass Europa Polen brauche.
“Was ist Europa anderes als ein Konglomerat von Fehlern? Fehlern, die so verschieden sind, dass sie einander ergänzen und ausbalancieren. Für sich betrachtet sind wir alle unerträglich, jeder auf seine Art. Schaut Euch doch die Schweizer an, oder die Griechen! Von den Deutschen ganz zu schweigen.”
Vision 2006: Hans Magnus Enzensberger versetzt sich 1987 in das Jahr 2006 und besucht europäische Hauptstädte …
Helsinki: Er besucht auf dem Land einen zurückgetretenen Präsidenten, der einsam und bescheiden in einer Hütte lebt.
Dieser sagt (Seite 481):
“Sehen Sie, wir haben jahrzehntelang eine Chimäre verfolgt: die europäische Einheit. Diese Idee stammt noch aus den Zeiten, in denen alle Welt an den technischen Fortschritt, an Wachstum und Rationalisierung glaubte. Der sogenannte Europa-Gedanke lief auf die Absicht hinaus, den großen Blöcken einen großen Block entgegenzusetzen.”
Also nichts als Big Science, High Tech, Raumfahrt, Plutonium, all diese bösen Scherze. Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt …
(…)
“Die logische Folge war, dass Brüssel zu einem riesigen supranationalen Wasserkopf wurde … natürlich alles ohne demokratische Legitimation: wer das Sagen hatte, war nicht aus freien Wahlen hervorgegangen, und wer aus freien Wahlen hervorgegangen war, der hatte nichts zu sagen …”
Enzensberger läßt sich fragen: “Sie wollen, wenn ich Sie richtig verstehe, eine europäische Einheit ohne Einheit?”
Sein Gastgeber zitiert einen Historiker:
“Jede nivellierende Tendenz, sei sie politisch, religiös oder sozial, ist für unseren Kontinent lebensgefährlich. Was uns bedroht, ist die Zwangseinheit, die Homogenisierung, was uns rettet, ist unsere Vielfalt …”
“Das was Sie Chaos nennen (würden), ist unsere wichtigste Resource. Wir leben von der Differenz.”
Wunderbar auch die Zeitreise des Journalisten (1987 von Enzensberger geschrieben) 2006 nach Berlin, um die ökologisch interessanten Gebiete an der (ehemaligen) Mauer zu besichtigen. Köstlich wie er der Diskussion vorgreift, ob man Teile der Mauer in Berlin erhalten sollte.
Intensiv auch seine Berichte 1983 aus Italien und 1985 aus Spanien.
Enzensberger als Visionär und mit aktuellen Gedanken zu Europa (er nennt die geographischen Grenzen auch Fransen, ein gutes Bild, es gibt keine europäische Grenze des Denkens).
Comments are closed.